Dysphagie bei ALS

Dysphagie bei ALS

Die Dysphagie (Schluckstörung) ist Symptom verschiedener Krankheitsbilder. Ausprägung und Symptome sind dabei verschieden und nicht zu pauschalisieren. Ein besonderer Fokus liegt daher auf der therapeutischen Behandlung der Dysphagie.

Den Anfang macht die Amyotrophe Lateralsklerose: In diesem Artikel behandeln wir Dysphagie bei ALS.

Das Wichtigste auf einen Blick

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ALS steht für Amyotrophe Lateralsklerose.

Die ALS ist eine neurodegenerative Erkrankung. Sie schreitet voran und führt zum Tod. Es gibt aktuell keine Heilung.

Einer der bekanntesten ALS-Erkrankten ist Stephen Hawking, bei dem die Krankheit mit 21 Jahren diagnostiziert wurde.

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Ein früher Therapiebeginn, sowie regelmäßige Evaluation der Maßnahmen ist entscheidend für eine optimale Versorgung.

1. Amyotrophe Lateralsklerose

1.1. ALS: was ist das?

ALS, das steht für „Amyotrophe Lateralsklerose“ . Dabei handelt es sich um ein nicht heilbare, degenerative Krankheit. Bisher weiß man, dass sie vererbbar ist. Weiter Ursachen sind noch unbekannt. 

Die ALS betrifft das motorische Nervensystem, genauer das erste (Pyramidenbahnen) und zweite (Hirnstamm und Rückenmark) Motoneuron . Es folgen beidseitige Bewegungseinschränkungen, die sich durch spastischen und schlaffen Lähmungen (Paresen), sowie Muskelzuckungen (Faszikulationen) äußern.

Jährlich sind ein bis zwei von 100.000 Menschen von ALS betroffen. Erkrankte sind im Durchschnitt 50-70 Jahre, wenn die Krankheit ausbricht. Männer sind häufiger betroffen als Frauen. Dabei ist die Lebenserwartung stark verkürzt. Schwere und Dauer des Verlaufes variieren hierbei.

Einer der bekanntesten ALS-Erkrankten ist Stephen Hawking. Mit 21 Jahren diagnostiziert lebte er 55 Jahre mit der Krankheit, während er eine beispiellose Karriere in der Astrophysik hinlegte. 

1.2. Diagnostik der ALS

Dysphagie bei ALS Diagnostik

Wer stellt eine ALS-Erkrankung fest? 

Da es sich um eine neurodegenerative Erkrankung handelt, ist der erste Weg zum Neurologen. Dieser testet klinisch die Muskulatur, Sprech-, Schluck- und Atemfunktionen. 

Neben einer klinischen Untersuchung werden auch neurophysiologische und bildgebende Verfahren eingesetzt:

  • Elektromyografie (EMG): Messung von Muskelaktivität
  • Messung der Nervenleitgeschwindigkeit
  • Magnet-Resonant-Therapie (MRT): Bildgebendes Verfahren zur Abbildung des Gehirns.
  • Blutentnahme: Mögliche Hinweise im Blutbild, die auch auf andere Krankheiten hinweisen kann
  • Untersuchung von Liquor: Entnahme von Nervenwasser aus dem Rückenmark. 

Selten werden genetische Untersuchungen oder eine Muskelbiopsie durchgeführt, in der Gewebeproben genauer untersucht werden. 

Dabei ist eine Differenzialdiagnostik entscheiden. Das bedeutet, dass ähnliche Krankheitsbilder und -Verläufe ausgeschlossen oder bestätigt werden können. Das ist wichtig, um die richtige Therapie in die Wege zu leiten. 

1.3. Symptome bei ALS

Symptome bei ALS Dysphagie

Die Schwere und Ausprägung der Symptome variieren, je nachdem welches Motoneuron zuerst betroffen ist.

Der Verlauf ist unterschiedlich und äußert sich durch Muskelschwund, bis hin zu Lähmungen und einem erhöhten Muskeltonus, die sämtliche Muskelpartien betreffen können. Ausgenommen hierbei sind Augenmuskeln, Herzmuskeln sowie die Schließmuskeln des Darms und der Blase.  

Bei jedem Dritten ALS-Betroffenen beginnt die Erkrankung mit Sprech- und/ oder Schluckstörungen (Bulbärparalyse). Weitere Symptome sind Stimm- und Atemprobleme. Besonders die psychosoziale Belastung von Betroffenen und deren Angehörigen ist hoch und muss im therapeutischen Setting berücksichtigt werden

2. Therapie: Dysphagie bei ALS

Therapie bei Dysphagie und ALS

Zwar gibt es keine Heilung, dennoch gibt es verschiedene therapeutische Möglichkeiten, um den Verlauf günstig zu beeinflussen und somit auch die Lebensqualität zu verbessern

Neben einer medikamentösen Therapie haben sich konservative Maßnamen, wie Physio-, Ergo- und Psychotherapie, sowie Logopädie bewährt. Auch über die Optionen einer PEG-Sonde (Perkutane endoskopische Gastrostomie) und einer maschinellen Atemunterstützung sollte früh aufgeklärt und beraten werden.

3. Logopädie bei ALS

In der Arbeit mit ALS Patienten stehen besonders aktuelle Bedürfnisse des Patienten im Vordergrund. Die Übungen und Hilfsmittel sollen den Alltag des Patienten 

  • erleichtern
  • entlasten
  • stabilisieren
  • und ressourcenorientiert eingesetzt werden. 

Die Therapiefrequenz sollte mehrmals wöchentlich im ambulanten oder häuslichen Setting stattfinden.

3.1 Therapiebereiche

Die Therapiebereiche in der Behandlung mit ALS Patienten sind individuell und regelmäßig nach dem Allgemeinzustand und Bedürfnissen neu zu bewerten. Grundsätzlich können folgende Bereiche im Rahmen der logopädischen Therapie abgedeckt werden.

3.1.1. Haltung

Eine optimale Haltung ist hilfreich für Behandlung von Sprech-, Stimm- und Schluckproblemen. Dies kann durch Lagerung sowohl im Bett ( zBsp. Herzbett) oder im Rollstuhl erfolgen. Eine interdisziplinäre Absprache mit Pflegepersonal oder Physiotherapeuten erleichtert das Lagern des Patienten. 

3.1.2. Atmung

Die Atemfunktion und der Therapieschwerpunkt ändert sich je nach Fortschritt der Erkrankung und muss regelmäßig evaluiert werden. Die Eigenwahrnehmung spielt hierbei eine große Rolle. Bestehend aus aktiven und passiven Atemübungen können Atemimpulse und Atemvertiefung angeleitet werden. Zum späteren Zeitpunkt ändert sich der Schwerpunkt in die Atemerleichterung.

Das Sekretmanagement ist ein weiterer Baustein in der Therapie. Aufgrund der schwachen Atemmuskulatur ist ein selbstständiger Abtransport erschwert, bis gar nicht möglich. Der Austausch mit Atem- und Physiotherapeuten ist hier sehr wichtig.

3.1.3. Sprechen und Stimme

Aufgrund der Muskelschwäche nimmt auch die Kraft im orofacialen Bereich ab. Die Folge: Erschwerte Artikulation und Stimmkraft. Neben der Förderung der Eigenwahrnehmung haben sich sowohl passive, als auch aktive Übungen zur Verbesserung der Beweglichkeit der orofacialen Muskulatur bewährt. Im Rahmen der Stimmtherapie stehen der Erhalt der Modulationsfähigkeit, sowie der Dynamik im Vordergrund. 

3.1.4. Kommunikation

Ist im späteren Verlauf eine Stimmgebung nur noch erschwert möglich, kann unterstütze Kommunikation verwendet werden. Kommunikation ist sehr hohe Lebensqualität und nicht außer Acht zu lassen. Technische Hilfsmittel zBsp. in Form von Tablets und Eyetracking Tools können erprobt und trainiert werden. 

3.1.5. Schlucken

Die Therapie des Schluckens enthält verschieden Aspekte, die es zu berücksichtigen gibt.

Wie funktioniert das Schlucken?

Eine FEES (Flexibel endoskopische Evaluation des Schluckens) gibt Aufschluss darüber, welche Konsistenzen sicher geschluckt werden können. Kompensatorische Techniken, wie das Chin-down Manöver können ausprobiert und bewertet werden. Adaptive Verfahren, wie die Anpassung der Konsistenz (zBsp. Durch Andickungsmittel) oder die Verwendung von Trinkhilfen (zBsp. Sippa home), erleichtern die Nahrungsaufnahme. 

Im weiteren Verlauf wird aus der oralen Nahrungsaufnahme eine orale Stimulation zum Erhalt der Lebensqualität. An diesem Punkt ist Aufklärung und Beratung hinsichtlich einer enteralen Ernährung unerlässlich. 

4. ALS und Logopädie: Fragen und Antworten aus der Praxis

Einblicke in die Arbeit mit ALS Patienten: Ein Interview mit Ulrich Birkmann

Ulrich Birkman Dysphagie bei ALS

iuvas: Herr Birkmann, viele Kollegen haben großen Respekt vor dem Krankheitsbild ALS. Was geben Sie diesen Kollegen mit? Wie kann diese Angst genommen werden? 

Birkmann: Ein gewisser Respekt ist aus meiner Sicht auch angebracht. Die Erkrankung schreitet, im Gegensatz zu vielen anderen Erkrankungen, sehr schnell voran. Die Patient*innen haben nicht mehr viel Zeit und müssen in dieser Kürze viele relevante Entscheidungen treffen. Ich sehe mich hier als spezialisierter Wegbegleiter, der den betroffenen Menschen begleitet und ihm für die vielen aufkommenden Fragen zur Verfügung steht. Das Ganze funktioniert auch nur, wenn interdisziplinärer Austausch stattfindet. Somit kommuniziert man idealerweise fachlich immer auf Augenhöhe mit anderen Kolleg*innen aus anderen Berufsgruppen, die sich ebenfalls spezialisiert haben sollten. 

Wenn ich mich auf eine Begleitung eines Menschen mit ALS einlasse, dann sollte ich möglichst viel über die Erkrankung und den damit einhergehenden Symptomen wissen. Wissen und Expertise sind somit die Grundpfeiler dafür, zwar mit Respekt vor der Schwere der Erkrankung, jedoch ohne Ängste den Weg mit dem mir anvertrauten Menschen zu gehen. 

Problematisch ist, dass es im deutschsprachigen Raum nur wenig bis keine Literatur zum Thema „Dysphagie und ALS“ gibt. In den gängigen Dysphagie-Werken werden die ALS und die damit einhergehenden Schluckstörungen nur tangiert, vertieftes Wissen erlangt man nur in der Durchsicht der angloamerikanischen Literatur, was jedoch viele Kolleg*innen abschreckt. 

Somit habe ich das, was ich in den Jahren gelesen habe und die Erfahrungen die ich gesammelt habe in ein 1 1/2-tägiges Seminar integriert, in dem die Praxis auf einer fundierten Theorie aufbaut. So möchte ich den Kolleg*innen das nötige „Handwerkszeug“ mitgeben. 

iuvas: Welche Besonderheiten gibt es bei der Dysphagietherapie mit ALS-Patienten? 

Birkmann: Eine Besonderheit ist vor allem die schnelle Progression der Erkrankung. Je nach Verlaufsform zeigen die Betroffenen bereits im Frühstadium schwere Schluckstörungen, die nach einer klinischen und apparativen Diagnostik mit den Betroffenen und den Angehörigen besprochen werden müssen. Erschwert wird dieses Vorgehen damit, dass die Betroffenen in ihrer Krankheitsverarbeitung noch gar nicht soweit sind, um auf therapeutische und ärztliche Ratschläge adäquat zu reagieren. Hier ist therapeutisches „Fingerspitzengefühl“ und berufliche Erfahrung im Rahmen der Beratung unumgänglich. Berufsanfänger*innen und unerfahrene Kolleg*innen sind hier vielmals mit den tiefgreifenden Fragen und den damit verbundenen Entscheidungen überfordert. 

Ein weiterer Bereich, der bei der Arbeit mit Menschen mit ALS im Fokus steht, ist ein professionelles Sekretmanagement. Aufgrund der stark reduzierten respiratorischen Mechanismen ist es den Betroffenen häufig nicht möglich, das entstandene Sekret in den tieferen und auch höheren Atemwege adäquat zu mobilisieren. Die Therapie besteht dann darin, den Betroffenen Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen und diese interdisziplinär einzusetzen. Hier ist eine enge Verknüpfung von Physio-/Atmungstherapie, Pflegedienst und Ärztlichem Dienst notwendig. 

Eine therapeutische Begleitung von ALS-Betroffenen besteht meiner Meinung aus vier Säulen: 

  1. Ständige Re-Evaluation der gestörten deglutitiven Funktionen
  2. Beratung von Betroffenen und deren Angehörigen 
  3. Sekretmanangement und individuell angepasste tonusregulierende Maßnahmen
  4. Therapeutische Mundpflege 

iuvas: Sie machen viele Hausbesuche. Wie kann die Arbeit im häuslichen Umfeld verbessert werden? Besonders in der aktuellen Situation der Corona-Pandemie?

Birkmann: Die Menschen mit ALS gehören mit ihren insuffizienten respiratorischen Funktionen und dem damit einhergehendem erhöhtem Aspirationspneumonierisiko zu den hochgradig gefährdeten Menschen. Im Rahmen der Dysphagietherapie und des Sekretmanagements kommt es durchgehend zum Abhusten von Aspirat und Sekret, was auch für die behandelnden Kolleg*innen eine sogenannte „Hoch-Risiko-Prozedur“ darstellt. Unumgänglich ist im Rahmen der Pandemie eine auf unsere Arbeit exakt abgestimmte persönliche Schutzkleidung vor Ort. 

iuvas: Was darf in Ihrem Therapiekoffer nicht fehlen?

Ich persönlich habe meine von mir konzipierte  „Theratäsch“, einer Therapietasche, die ich speziell für den Einsatz im Hausbesuch aber auch im stationären Bereich nutze. Hier habe ich sämtliches Verbrauchs- und Dokumentationsmaterial immer „am Mann“ und kann auf alles bedarfsgerecht zugreifen. 

Ulrich Birkmann ist Diplom-Sprachheilpädagoge und staatlich anerkannter Rettungsassistent. Er hat 1997 sein Diplom an der Universität zu Köln erworben. Im Anschluss daran arbeitete er in der sprachtherapeutischen Abteilung der »Kursamed Fachklinik für Neurologie«. Ab 1999 war er als Diplom-Sprachheilpädagoge im geriatrischen »Reha-Zentrum Reuterstraße« in Bergisch Gladbach angestellt. Seit 2008 leitet er die Abteilung für Dysphagiologie und die Schluckambulanz Troisdorf-Sieglar im »Sankt Johannes Krankenhaus« in Troisdorf-Sieglar. Seit 2001 ist er Lehrbeauftragter der Universitäten zu Köln, der Universität Bielefeld und der Hochschule für Gesundheit in Bochum, Gutachter für Bachelor- und Masterarbeiten zum Thema »Dysphagie« und Autor des  Buches »FEES: Die funktionelle Schluckuntersuchung in der Neurologie – Ein Videolehrgang« (Hippocampus, 2015) und des »Kölner Befundsystems für Schluckstörungen – Kö.Be.S.« (ProLog, 2007). Seit 2015 ist Ulrich Birkmann zertifizierter FEES-Ausbilder (Deutsche Gesellschaft für Neurologie, Deutsche Schlaganfall Gesellschaft und Arbeitskreis FEES) und FEES-Ausbilder der »European Society of Swallowing Disorders – ESSD«).

Ulrich Birkmann

Eine Besonderheit ist vor allem die schnelle Progression der Erkrankung. Je nach Verlaufsform zeigen die Betroffenen bereits im Frühstadium schwere Schluckstörungen, die nach einer klinischen und apparativen Diagnostik mit den Betroffenen und den Angehörigen besprochen werden müssen. 


Weiterführende Literatur und Quellenangaben

https://www.dgm.org/muskelerkrankungen/amyotrophe-lateralsklerose-als

Gastl, R., Ludolph, A. Amyotrophe Lateralsklerose. Nervenarzt 78, 1449–1459 (2007). https://doi.org/10.1007/s00115-007-2354-5

https://www.hawking.org.uk

https://www.lateralsklerose.info/als_die-krankheit/als_diagnostik/

http://www.logopaedie-mainz.de/Downloads/fb_ALS.pdf

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